EIN INTERVIEW ÜBER DAS ERWACHEN
Christian Meyer
Eines der größten Ziele jedes spirituellen Weges ist wohl das Aufwachen oder die Erleuchtung. Es ist die Antwort auf die Frage: Wie kann ich glücklich werden? Gleichzeitig erscheint der Begriff für die meisten Menschen zu abstrakt, eine ferne Vision, die in diesem Leben kaum realisierbar scheint. Wie es uns dennoch gelingen kann, diesen dauerhaften Zustand des tiefen inneren Friedens zu erreichen, erzählt uns der spirituelle Lehrer, Psychologe und Psychotherapeut Christian Meyer.
Lieber Christian, was bedeutet der Begriff der Erleuchtung für dich? Bedeutet es Ego-los zu sein?
Ja. Aber dabei gibt es große Missverständnisse. Es gibt eine innere Instanz, die unser Tun, unser Verhalten und Erleben gewissermaßen koordiniert, die verschiedenen Anteile integriert, Pläne des Organismus, des geistigen, emotionalen und physischen Organismus verfolgt und durchführt. Diese integrierende Instanz hat nichts mit dem Ich zu tun. Das Ich ist ein Bild, mit dem wir uns großartig fühlen oder minderwertig. Der ORGANISMUS freut sich, wenn etwas gut gelingt, das ICH macht aus der Freude den Stolz: »Schaut, wie großartig ich bin«. Das Ich ist das, was dich innerlich runtermacht, dass du nicht gut genug bist und dir sagt, wie du sein solltest. Dieses Ich kann beendet werden, denn es ist nur ein Gedankenkonstrukt, eine Illusion.
Können das nur Mystiker, Gurus und außergewöhnliche Menschen? Oder kann grundsätzlich jeder das Auflösen des Ichs erreichen?
Jeder und jede kann aufwachen, kann Erleuchtung finden. In meinen Retreats wachen regelmäßig Menschen auf, mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen: Manche sind längere Zeit, auch ein paar Jahre bei mir, andere vielleicht nur einige Retreats, wieder andere waren vorher lange auf anderen spirituellen Wegen und sind dann auf meine Arbeit gestoßen.
Was ist deiner Meinung nach das größte Hindernis auf dem Weg zum Erwachen?
Gedanken. Das Ich. Einengende Überzeugungen. Der Wunsch,etwas erreichen zu wollen. Beispiel: der Gedanke des Mangels. Die Idee, dass es zu wenig Liebe, zu wenig Anerkennung gibt. Dass ich mich verstellen müsste und eine Show abziehen, damit die anderen mich lieben und akzeptieren könnten. Der innere Vorwurf, nicht gut genug zu sein und selbst schuld zu sein. Sobald du erfährst, dass du selbst Liebe bist, Liebe im Überfluss – dann will jeder gerne mit dir zusammen sein und du siehst plötzlich: Liebe ist überall. Das ganze Leben.
Könnten wir denn ohne ein Ich, ohne das Ego, überhaupt unseren Alltag bewältigen?
Ja, viel besser. Der Organismus ist dann viel effizienter, Selbstwirksamkeit wächst. Das Ich will nicht einfach eine Brücke bauen, sondern voller Hochmut alle anderen übertreffen, Konkurrenten in den Schatten stellen, ist aber auch voller Ängstlichkeit, ob man es schafft, und so steht dieses Ich im Weg und bringt Sand ins Getriebe.
Aber ist der Wunsch, erleuchtet zu sein bzw. zu werden, nicht auch ein Ego getriebener Gedanke?
Auch da gibt es ein wahnsinniges Missverständnis: der Wunsch und die Sehnsucht nach Erleuchtung sind fundamental wichtig. Die Frage ist, welche Motive sind hinter dem Wunsch, was soll dir die Erleuchtung geben. Großartig werden? Dich besser fühlen? Besser zu sein als die anderen? Das alles sind Ego-Wünsche, dann wird es nicht klappen. Wenn du aber Erleuchtung willst, weil die Wahrheit wichtiger ist als alles andere, die Freiheit jenseits allen Ichs, die Liebe, die bedingungslos ist und nichts will, dann sind das alles Ich-lose Motive. Dann gilt seit 4000 Jahren, was in den Upanishaden steht: Wenn du Erleuchtung willst, so sehr wie jemand unter Wasser nach einiger Zeit nach Sauerstoff und Luft verlangt, dann wirst du noch im selben Augenblick erleuchtet. Der Wunsch kann nicht stark genug sein.
Wie wird Erleuchtung also konkret möglich?
Erleuchtung geschieht, wenn man möglichst vollständig den Modus des Geschehenlassens einnehmen kann, ein vollständiges Loslassen. Deswegen helfen alle Übungen, die normalerweise auf den spirituellen Wegen gemacht werden, die die Struktur haben »Ich tue etwas, um etwas zu bewirken« in keiner Weise. Also den Atem beobachten, um innerlich ruhig zu werden, eine solche Übung hilft nicht, Mantra singen, um in einen anderen Zustand zu kommen, das hilft nicht. Allein Übungen des Geschehenlassens helfen. Zum Glück gibt es die.
Du würdest also sagen, dass die »normale« Meditation – sprich das wertfreie Beobachten unserer Gedanken sowie das bewusste Wahrnehmen unserer Atmung – sogar hinderlich im Prozess des Aufwachens sein kann?
Ja natürlich. Diese normale Meditation ist ein ungeheures Hindernis: Dort wird versucht, das ganze innere Erleben nur zu beobachten und nicht wirklich an sich herankommen zu lassen. Sie soll uns ja von den Gefühlen trennen, dass wir sie nur beobachten und uns nicht berühren lassen, sie nicht mehr zu erleben und zu fühlen brauchen. Aber indem die Gefühle beiseitegestellt werden – das wissen wir nach einem Jahrhundert Psychotherapie und Psychologie – lösen sie sich nicht, verschwinden sie nicht, bleibt der Organismus angespannt, um sie beiseitezuhalten.
Was wäre dann deiner Meinung nach ein besserer Weg?
Tatsächlich hilft zur Erleuchtung: alles ganz und vollständig zu fühlen, sich innerlich vollständig berühren und auch bewegen zu lassen. Und dann: Nichts tun; in der Lage sein, alle Impulse anzuhalten. Das ist ein großer Unterschied zu den traditionellen Wegen.
Für dich gibt es also keine Alternative zum wirklichen Fühlen, zum sich all dem stellen, was da ist, um inneren Frieden zu erlangen?
Ja, der einzige Weg, keine Alternative. Denn erst wenn unsere Gefühle gefühlt werden, können sie sich lösen, und dadurch ist erst das Loslassen möglich, das für die Erleuchtung die wichtigste Voraussetzung ist. Die normale Meditation, den Atem beobachten, Atemzüge zählen, aber auch die sogenannte formlose Meditation, indem ich alles auftauchen lasse, aber nur beobachte, ist ein großes Missverständnis. Das hatte übrigens schon Meister Eckhart und sein wichtigster Schüler, Johannes Tauler, gewusst. Aber das Wissen ist in Vergessenheit geraten und musste neu entdeckt werden.
Verändere ich mich bereits auf dem Weg zum Aufwachen?
Oh ja. Die Veränderungen sind gravierend: Du wirst lebendig, du wirst natürlich, der Atem beginnt sich zu lösen, die Blockierungen und Verspannungen der Muskulatur, die inneren einengenden Konzepte verschwinden… Indem du dich den Ängsten stellst und endlich nicht mehr vor ihnen wegläufst, vor allem vor der Angst zu sterben, entwickelt sich schon vorher ein unglaublich intensiveres und lebendiges Leben, die körperlichen und seelischen Verpanzerungen lösen sich auf. In der östlichen Philosophie, zum Beispiel im Yoga, wird versucht, durch immer mehr Kontrolle des Körpers und des Atems weiterzukommen. Wir machen genau das Gegenteil: Den Atem lösen, den Körper wieder natürlich werden lassen, die Kontrolle aufgeben können, zu einer natürlichen Spontaneität und zum vollständigen Fühlen.
Was können wir ganz praktisch tun, um den Prozess des Aufwachens zu fördern? Hast du einen persönlichen Rat oder eine Übung, die du unseren Lesern gerne mit auf den Weg geben möchtest?
Dafür habe ich ein Konzept entwickelt: »7 Schritte zum Aufwachen«. Fühlen lernen, ohne etwas zu tun, ist das eine. Mit dem Enneagramm seine Verhaltensmuster verstehen, wie wir die anderen und uns selbst manipulieren. Den Körper und den Atem durchlässig werden lassen, sich den existenziellen Ängsten, vor allem der Angst zu sterben, stellen. Innerlich aufräumen und die ungelösten und offenen Themen aus der Vergangenheit beenden – da kann man viel tun, um lebendig zu werden, authentisch zu sein und aufzuwachen.
Das Interview führte Natalie Kruse