EIN INTERVIEW ÜBER DIE BEDEUTUNG VON LEID UND ERWACHEN
Eckhart Tolle
Eckhart, viele Menschen verstehen deine Botschaft als einen Weg, Spiritualität zu leben und einen Erleuchtungszustand zu erlangen. Ist es ein Weg zur Erleuchtung und ist Erleuchtung überhaupt ein anzustrebender Zustand?
Sehr gute Frage. Ja, worüber wir sprechen, ist natürlich das, was man in alten Traditionen Erleuchtung nennt. Jetzt kommen wir aber zu dem Dilemma, dass viele Menschen das als ein erstrebenswertes Ziel betrachten. Und wenn man sagt, es ist der Sinn des menschlichen Lebens, sich dieser Dimension zu öffnen, dann kommt sofort das gedankliche Bewusstsein und sagt: Das ist eine sehr gute Idee. Wie komme ich von hier nach da? Das gedankliche Bewusstsein kann ja nicht das räumliche Bewusstsein erfassen. Es wird das räumliche Bewusstsein sofort reduzieren auf ein gedankliches Ding. Und dann kommt die Zukunft ins Spiel. Das Gedankenbewusstsein sagt also: Es gibt etwas, das ich erreichen kann oder erreichen muss. So ist das räumliche Bewusstsein sofort zu einem Gedankenmuster geworden und ich kann es dann für die Zukunft anstreben, die auch nur eine Gedankenform ist, denn außerhalb des Gedankens gibt es keine Zukunft. Ich kann es anstreben als wünschenswertes Ziel und sehr hart daran arbeiten. Und natürlich ist es auf diese Weise absolut unmöglich dahinzukommen, denn der Ausgangspunkt war schon ein Fehler. Vielmehr geht es um eine Form des Erwachens, als Entwicklung für die Menschheit.
Was hat Leid für eine Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit? Und in welchem Zusammenhang steht es zum Erwachen?
In den meisten Fällen ist Leid ein Teil des Erwachens, es geht dem Erwachen voraus. Denn durch Leid wird der Mensch aus der Identifikation mit der Form herausgezwungen. Je mehr und je stärker die menschliche Identität von Form bestimmt ist, desto mehr Leid wird auf den Menschen zukommen. Durch das Leid kann die Identifikation mit der Form zunächst eine Zeit lang verstärkt werden, das kann vielleicht Jahre dauern. Aber irgendwann kommt es zu einem Zusammenbruch oder zu einem Punkt, an dem der Mensch plötzlich bereit ist, die Verhaftung an Form aufzugeben. Etwas lockert sich. Und dann ist der Mensch vielleicht bereit, das zu hören. Wenn sich etwas gelockert hat, passiert es vielleicht, dass der Mensch von außen etwas hört. Ein Buch liest, einen Satz, der zur Wahrheit hindeutet. Und damit beginnt dann der bewusste Prozess des Wachwerdens.
Heutzutage gibt es auch schon Menschen, die nicht erst durch das tiefe Leid hindurchgehen müssen, weil die Menschheit an einem Punkt angelangt ist, an dem sie kollektiv in den letzten Tausenden von Jahren schon ungeheuerlich tief gelitten hat. Die Menschheit hat sich den größten Teil des Leids selbst zugefügt, ein Mensch dem anderen, eine Gruppe der anderen. Und ich glaube, dass in einem zunehmenden Maße das Leid für viele Menschen, die sich jetzt bewusst werden, nicht mehr absolut notwendig ist. Vielleicht wird noch für große Massen von Menschen, die noch sehr verhaftet sind am Ich, kollektives Leid kommen – durch Katastrophen, die wahrscheinlich durch den Menschen hervorgerufen sind.
»Wer eine gute Intuition hat und diese auch sicher wahrnimmt, hat es einfacher im Leben.«
Das Leid hat also eine wichtige Funktion im Prozess des Erwachens?
Ja, und ebenso wichtig ist es, dass im Prozess des Erwachens ein Zeitpunkt kommt, an dem der Mensch sich plötzlich bewusst wird, dass das Leiden für ihn nicht mehr notwendig ist. Jeder Mensch hat einen spirituellen Lehrer und der heißt Leid – auch Menschen, die überhaupt noch nie etwas von Spiritualität gehört haben: Krankheit, Unfall, Gewalttätigkeit, Altwerden. All das ist der spirituelle Lehrer in Verkleidung. Erst im Nachhinein sieht man dann, dass das ganze Leid, das man erlitten hat, in Wirklichkeit auch einen Sinn hatte. Wenn man es erlebt, hat es keinen Sinn. Plötzlich, im Nachhinein, sieht man jedoch, das Leid hatte einen Sinn und Gnade versteckte sich genau da, wo sie vollkommen überdeckt zu sein schien. Genau in dem Leid, in Krankheit, im Alter – da versteckt sich die Gnade. Und damit kommt ein wunderbares Loslassen der eigenen Vergangenheit. Sie wird unwichtig, sie hat ihr Soll erfüllt und ist jetzt nicht mehr wichtig für meine Identität. Meine Vergangenheit ist wie eine Schale, die man dann abwirft, und das Gefühl von Identität wird nicht mehr bezogen aus der Vergangenheit. Die Vergangenheit ist einfach abgefallen, sie hat ihre Funktion erfüllt. Und der Moment, in dem man das sieht, ist wunderbar.
Und das ist das Schöne an einer spirituellen Lehre: Sie beschleunigt diesen Prozess, in dem der Mensch das Leiden als spirituellen Lehrer nicht mehr benötigt.
Du hast selbst in deinem Leben Zeiten tiefer Dunkelheit erlebt – Angst, Depressionen. Weißt du, woher das bei dir kam und was letztendlich diesen Wandlungsprozess ausgelöst hat?
Bei mir war der einzige Lehrer das Leid. Und plötzlich kam die Auflösung der Ich-Form, der gedanklichen Ich-Form, weil das Leid nicht mehr zu ertragen war. Warum das Erwachen kam, kann ich nicht sagen. Die Frage: »Warum geschah es mir?« habe ich mir auch noch nicht gestellt, weil ich es nicht so sehe, dass mir etwas geschah. Ich sehe es so, dass das Ich-Gebäude sich auflöste. Mir geschah nichts, sondern das Ich wurde durchlässig. Das Ich hat nichts erreicht dadurch. Erwachen ist nicht etwas, das der Mensch erreicht. Es ist nicht ein großer Erfolg. Es ist nicht etwas, das man herzeigt und sagt: »Hier ist es, ich habe es, es gehört mir«, sondern ich bin durchlässig geworden. Das heißt, es ist nur noch ganz wenig da vom Ich und dann scheint es durch. Ich habe es mich nie gefragt, weil ich so unwichtig bin in dem ganzen Prozess. Das Ich ist nur wichtig, wenn man noch damit identifiziert ist. Ich habe mich nie gefragt, warum es mir passiert, weil das nicht die Perspektive ist, aus der ich es sehe.
Gab es denn einen besonderen Auslöser für die Wandlung?
Der Anlass war nicht mehr auszuhaltendes Leid. Und bei mir war die Identifikation mit der Form, mit den Gedanken, den Emotionen vielleicht besonders stark. Ich hatte einen sehr starken Schmerzkörper, das heißt alte Emotionen aus der Kindheit, die sehr schmerzhaft waren. Damit war ich sehr stark identifiziert. Das ist etwas, was alle Menschen haben. Bei mir war es vielleicht etwas ausgeprägter und aus diesem Grund geschah es dann wahrscheinlich. (lacht)
Ist der Sinn des Leids also, letztendlich zu erkennen, dass es keine Bedeutung hat für das wahre Selbst?
Ja, das Leid wird aus der Dimension des Erwachten erkannt als eine Art Albtraum, aus dem man erwacht. Die Bedeutung, die es hatte, war das Erwachen selbst. Das ist die einzige Bedeutung, die das Leid hat: das Erwachen selbst.
Das Interview führte Jürgen P. Lipp