DER WEG ZUR WAHREN ERLEUCHTUNG
Verkörperung
Oft wird unser spiritueller Weg an dem Moment ausgerichtet, in dem wir unser
Alltagsbewusstsein überschreiten und eine dauerhafte Einsicht in eine umfassende
Wirklichkeit erlangen: der Erleuchtung. Aber so wichtig Erleuchtung, Eingebung oder Erkenntnis auch sein mögen – sie sind nur die Hälfte der Miete. Denn, wenn wir
nicht verkörpern, was wir erkannt haben, dann bleibt es eine theoretische geistige
Einsicht, wird jedoch keine gelebte spirituelle Praxis. Was das genau bedeutet und was es mit der Verkörperung auf sich hat, erklärt uns Ahnenexpertin Kaja Andrea.
Schauen wir zurück, so wird die Erleuchtung vor allem im religiösen Kontext gepredigt. Dieser ist immer maskulin geprägt – Gott, Allah, Buddha – und hierarchisch organisiert – Papst, Mullah, Lama. Das, was Religionen gemein haben, ist das Konzept, dass es einen anderen anstrebenswerteren Ort gibt als die Erde – Himmel, Nirvana und Co –, an dem wir uns irgendwann befinden werden. Der religiöse Pfad ist der der Beherrschung des Geistes und der Unterordnung des Fleisches. Werfen wir jedoch einen Blick in die indigenen Weisheiten und die vorchristliche Zeit in Europa, so finden wir dort neben der Erleuchtung auch immer den Aspekt der Verkörperung. Denn Verkörperung ist feminin. Und nur wenn beides zusammenwirkt, dann können wir wirklich etwas kreieren. Dann werden wir im wahrsten Sinne des Wortes zur Schöpferin. Diese feminine Schöpferinnenkraft ist jedoch nicht das, was den Religionen als erstrebenswert erschien, ebenso wenig dem Patriarchat.
Der weibliche Körper stand schon immer für die Schöpferinnenkraft – blutend, gebärend, mystisch, alchemistisch. Und wenn wir Erkenntnisse wirklich umsetzen wollen, dann bedeutet es, sie durch unseren Körper fließen zu lassen, sie zu leben und sie damit in Materie zu verwandeln. Wir werden zu Alchemistinnen. Das ist es, worum es bei Verkörperung geht – etwas Immaterielles materiell werden zu lassen. Das Wort Materie hat seinen Ursprung in dem lateinischen Wort »māteria«, womit »Stamm und Schösslinge von Fruchtbäumen und Weinreben, Bauholz, Nutzholz, (Grund)stoff, Aufgabe, Anlage, Ursache« bezeichnet wurden. Das Wort māteria wiederum ist eine Ableitung von »māter«, was Mutter bedeutet. Daher kommt auch das Konzept von »Mutter Erde«, da es der sichtbare, greifbare Teil der Welt ist. In seiner Bedeutung steht das Wort Materie zum einen für den Stoff, aus dem etwas gefertigt ist (Material), zum anderen geht es um die »stoffliche Seite eines Naturkörpers« (14. Jh.), als »Möglichkeit des Seins«, das seine Bestimmung erst durch die Form erhält. Wenn es also ums Verkörpern geht, dann können wir sagen, dass es zum einen darum geht, die stoffliche Seite einer Erkenntnis bzw. unseres Seins materiell zu machen, unseren Spirit zu verkörpern. Und zum anderen geht es ganz profan darum, überhaupt wirklich im eigenen Körper zu sein. Und so einfach sich die Idee auch anhören mag, so vielschichtig ist sie.
Ich selbst habe als Kind ziemlich schnell gelernt, meinen Körper zu verlassen. Als junge Frau habe ich die Fähigkeit dann perfektioniert, insbesondere in Situationen, die unangenehm waren oder unsicher erschienen. Ein Teil von mir ist dann quasi aus dem Körper geflutscht und hat sich das Ganze von außen angeschaut. Das war zum Beispiel der Fall, als ich eine physische Missbrauchssituation erfahren habe, als ich vor lauter emotionaler Intensität in Familienkonflikten nicht wusste wohin oder ganz simpel, während ich auf dem Zahnarztstuhl behandelt wurde oder auch beim Sex.
»Je bewusster ich neutrale und positive Momente des In-meinem-Körper-Seins kreierte, desto mehr nahm ich wieder in meinem Körper Platz.«
Für mich war der Satz »Du musst es einfach nur verkörpern« damit schwierig zu verstehen – denn das Nicht-Verkörpern war doch das, was das Leben erträglich machte.
Später wurde mir klar, dass es nicht nur mir so ging, sondern dass Frauen seit Generationen ihren Körper verließen, um das Leben zu ertragen – in unsicheren, unangenehmen und unerträglichen Situationen. Es war die einzige Art, das Patriarchat zu überleben. Und diese epigenetischen Erinnerungen unserer Ahninnen sind bis heute in unserem Körper. Als Kollektiv der Frauen wissen wir, dass es als Frau nicht sicher ist, im eigenen Körper zu sein. Denn Fakt ist eben auch, dass seit 6000 Jahren Frauen über ihren Körper definiert und herabgesetzt werden.
Mit dem Verlassen meines Körpers tat ich also nur das, was so viele Frauen vor mir taten. Das das Problem dabei jedoch war, dass, wenn ich als Frau nicht in meinen Körper gehe, mir dann eben auch ein Teil meiner Präsenz, ein Teil meiner Macht und ein Teil meiner Umsetzungskraft fehlt und ich damit eventuell nicht das kreieren kann, was ich in die Welt bringen möchte. Das ich nicht materialisieren kann, was ich möchte – eben durchmeditiert, weil ich selbst nicht vollkommen in meiner Materie bin. So richtig wurde mir diese Tatsache bewusst, als ich merkte, dass die ganze Manifestations-Mania bei mir nicht so richtig funktionierte, dass ich es nicht schaffte, Dinge nachhaltig in mein Leben zu holen. Rückblickend kein Wunder, denn ich war ja nicht vollkommen da.
Es ging also nicht um mein Mindset oder meine blockierenden Gedanken – so viel hatte ich schon durchgecoacht und durchmeditiert. Vielmehr ging es darum, dass ich nicht in meinem Körper war, meine Materie nicht voll einnahm und damit eben auch keine Materie kreieren konnte. Und das bringt mich zum zweiten Aspekt der Verkörperung: Wenn ich nicht in meinem Körper bin, dann kann es mir schwer fallen, Erkenntnisse zu verkörpern. Dann kann es herausfordernd sein, intellektuell begriffene Konzepte oder emotional erfasste Wahrheiten in den Körper zu bringen bzw. über den Körper zu leben. Denn wenn mein Körper mir nicht als ein sicherer Ort erscheint, wenn ich nicht mit ihm verbunden bin, wenn ich gelernt habe, ihn in unangenehmen Situationen zu verlassen – warum sollte ich nun gerade in diesem Moment voll und ganz in ihm Platz nehmen?
An dieser Stelle: Es ist nicht unsere Schuld als Frauen, dass wir nicht in unserem Körper sind, dass wir ausbüxen, dass wir nicht präsent sind. Es ist die Konsequenz eines patriarchalen, misogynen, hierarchischen Systems, in dem wir seit 6000 Jahren leben. Und damit sind wir bei der Krux der Verkörperung. Anstatt nun also weiterhin dem weitverbreiteten Narrativ zu folgen, dass fehlende Verkörperung Selbstsabotage sei, gilt es zunächst Sicherheit für unseren und in unserem Körper zu schaffen. Ja, wir können das Patriarchat nicht direkt umstürzen – es wird also noch einige Zeit genügend unsichere Momente für Frauen geben. Und gleichzeitig können wir aktiv beginnen, uns in dem eigenen Rahmen sichere Orte zu schaffen. Nur wenn wir uns diese sicheren Orte schaffen, können wir auch sicher in unseren Körper gehen und sicher in unserem Körper sein und damit auch ins Verkörpern kommen. Nur wenn wir uns diese Räume schaffen und auch gegenseitig erlauben, dann können wir voll und ganz in unserem Körper Platz nehmen.
Ich habe mir dafür einen Ort zuhause geschaffen – du kannst dir eine Ecke einrichten oder es kann dein Meditationskissen sein. Dieser sichere Ort für deinen Körper, an dem du ungestört sein kannst und nichts zu befürchten hast, ist der Ausgangspunkt dafür, wieder in deinem eigenen Körper anzukommen. Eine Übung dazu ist der Body Scan: Dabei scanne ich einfach von oben nach unten durch meinen Körper und nehme wahr, was ist. Ohne es zu beurteilen oder verändern zu wollen. Nur diese Übung zweimal täglich zu machen kann deine Beziehung zu deinem Körper als Ort schon verändern. Vor allem, wenn es in einem sicheren Raum stattfindet, von dem du weißt, dass dein Körper dort sicher ist. Und damit eben auch die Sicherheit innerhalb deines Körpers erspüren kannst. Wichtig dabei: Sicherheit bedeutet nicht immer angenehm. Schmerz zu fühlen oder ein mulmiges Bauchgefühl können auch sicher sein, denn sie weisen uns auf etwas hin.
In diesen sicheren Räumen bekommen wir wieder ein Gefühl dafür, was es bedeutet, wirklich im eigenen Körper zu sein – für einige fühlt es sich anfangs schwer an, für andere eng. Die meisten Frauen sind erstaunt herauszufinden, wie oft sie nicht in ihrem Körper sind. Und noch erstaunter, was es für einen Unterschied macht, wieder in ihm Platz zu nehmen. Je bewusster ich neutrale und positive Momente des In-meinem-Körper-Seins kreierte, desto mehr nahm ich wieder in meinem Körper Platz. Es war wie ein Nachhausekommen. Denn das ist die Essenz von Verkörpern oder Embodiment: – zuhause in uns zu sein. Ich nenne es Forma Mater – die ursprüngliche Form der Großen Mutter. Und durch das Verkörpern und das in mir Zuhausesein konnte ich dann auch viel klarer und schneller das Leben materialisieren, welches ich heute habe –, mit all den Dingen, die meine Seele lächeln lassen. Ich lebe in einer Stadt, die mich jeden Tag bezaubert. Jeden Morgen trete ich auf meinen Balkon und blicke über den Fluss. Mit dem Einnehmen meines Platzes entstand auf einmal auch mehr Platz im Außen – meine jetzige Wohnung ist die größte, die ich je hatte. Ich werde getragen von einer nährenden Sisterhood. Ich genieße das Leben in einer Tiefe, die mir zuvor nicht möglich gewesen wäre – Essen, Sinnlichkeit, Sex, Musik, meinen Körper als solches und so viel mehr.
Und bevor zum Ende hin jetzt der Druck entsteht, ab jetzt sofort immer und überall in deinem Körper sein zu müssen – ich bin es auch noch nicht immer. Denn es gibt gesellschaftliche Situationen, die immer noch nicht sicher sind für mich als Frau und in denen ein Teil von mir ausbüxt. Ich habe anerkannt, dass es epigenetische Informationen in meinem Körper gibt, die diesen Teil von mir dazu verleiten auszuchecken. Doch im Unterschied zu früher merke ich es mittlerweile bewusst und kann es somit annehmen und mir anschauen. Ich kann mit einer sehr viel größeren Klarheit herausfinden, was los ist, die Wurzel finden und die Themen bewegen – für noch mehr Präsenz in meinem Körper. Denn beim Verkörpern geht es nicht um Perfektion, sondern um Präsenz. Die einfachsten Wege in den Körper sind Genuss und Lust – die Dinge, die uns seit Evas Verbannung aus dem Paradies abgesprochen wurden. Es ist an uns diese wieder zu kultivieren – Schritt für Schritt, jede in ihrem Tempo.
Und das teile ich am Ende mit dir, damit hier nicht der nächste Hype oder Druck entsteht. Denn: Du kannst dir ein großartiges Leben manifestieren, ohne perfekt zu sein oder alle deine Themen komplett aufgelöst zu haben. Und wer dir was anderes erzählt, teilt nur patriarchalen toxischen Bullshit mit dir.