EIN INTERVIEW ÜBER BEZIEHUNG, BEWERTUNG & BEFREIUNG
Gabby Bernstein
Gabby, wie würdest du den Wandel beschreiben, der sich in den letzten fünfzehn Jahren in Hinblick auf unsere Beziehungen vollzogen hat?
Mit dem Aufkommen der sozialen Medien haben sich die zwischenmenschlichen Beziehungen enorm verändert. Es fällt den Leuten zusehends schwerer, in ihren Verbindungen authentisch zu sein und wahre Intimität zu erleben. Infolge des fortwährenden Vergleichens in den Feeds der sozialen Medien hat überdies das Bewerten von allem und jedem drastisch zugenommen. Und schließlich verbringen die Leute, weil sie immer mehr Gelegenheiten nutzen, sich online zu verbinden, inzwischen weniger Realzeit miteinander.
Kannst du den sozialen Medien denn auch Positives abgewinnen?
Sie bringen eine Menge neuer Herausforderungen mit sich, aber sie haben auch gute Seiten. Jeder kann heute übers Internet ganze Bewegungen lostreten. Wer eine starke Botschaft hat, kann sie rasend schnell überall verbreiten. Viele Liebesverhältnisse nehmen heute im Internet ihren Anfang, und sehr in sich gekehrte Menschen mit Kontaktschwierigkeiten können über diesen Weg leichter eine Beziehung anbahnen. Ich kann all dem Social-Media-Wahn also durchaus auch etwas Positives abgewinnen.
Würdest du denn sagen, dass die Menschen sich im Internetzeitalter weniger aufeinander einlassen als früher?
Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Die Leute sind heute offener denn je. Dank der sozialen Medien verfügen sie über Plattformen, auf denen sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen und von ihren Erlebnissen berichten können. Der Bildschirm fungiert dabei als Schild; hinter seinem Schutz fühlen sie sich freier, der Community ihre Gefühle mitzuteilen.
Trotz der zusätzlichen Chancen durchs Internet, die du eben erwähnt hast, scheint es doch aber so, als würden die Menschen immer mehr Probleme damit haben, einen Partner zu finden. Einen, der zu ihnen passt und ihre Werte und Überzeugungen teilt.
Das hat meist damit zu tun, dass sie gar nicht glauben, einer solchen Beziehung würdig zu sein. Unsere Fähigkeit, einen Partner für eine Liebesbeziehung anzuziehen, bemisst sich danach, wie sehr wir daran glauben, dass uns Liebe zusteht. Menschen, die Schwierigkeiten damit haben, Liebe anzuziehen, halten sie sich in Wahrheit mit ihren innersten Überzeugungen vom Leibe.
Sind vielleicht auch unsere Erwartungen zu hoch geworden?
Wer nach immer noch mehr Ausschau hält, ist mit dem eigenen Leben unzufrieden. Wenn wir lernen, den anderen als das zu nehmen, was er oder sie ist, ziehen wir mehr von dem an, was wir eigentlich wollen.
Was ist also deiner Meinung nach der Schlüssel zu einer gesunden Beziehung?
Der Schlüssel zu einer gesunden Beziehung liegt in Wertschätzung und Mitgefühl. Wenn dein Partner sich nicht für Spiritualität interessiert, ist das völlig okay. Folge deiner eigenen Praxis. Sei das Licht in der Beziehung und erwarte vom anderen nicht, dass er oder sie deine Überzeugungen teilt und deine Übungen mitmacht. Solange der oder die andere dich in deinem Glauben bestärkt, ist alles gut.
Stattdessen erfahren wir in unseren Beziehungen aber oft Bewertungen und Urteile. Auch wir selbst neigen dazu zu urteilen – über unseren Partner, Freunde, Fremde aus dem Internet. Wie wirkt sich das auf uns aus?
Das Urteilen und Bewerten erzeugt Getrenntsein und führt dazu, dass wir uns allein fühlen. Urteilen und Bewerten impliziert, dass wir entweder besser sind als der andere oder uns ihm unterlegen fühlen. Beides trennt uns von unserer wahren Natur – von der Liebe, dem Einssein.
Siehst du im Urteilen und Bewerten eines der Hauptprobleme zwischenmenschlicher Beziehungen?
Ja!
Tun wir uns selbst damit womöglich mehr weh als dem anderen?
Wir tun uns damit ebenso weh wie dem anderen. Wenn wir urteilen und bewerten, hauen wir uns eigentlich selbst auf den Kopf. Das mag sich im ersten Moment gut anfühlen, aber bald zeigt sich, dass wir uns damit von der inneren Wahrheit entfernt haben. Denn unsere wahre Natur ist Einssein, ist Freundlichkeit und Mitgefühl. Wenn wir uns vom Urteilen und Bewerten ködern lassen, verleugnen wir unsere wahre Natur der Liebe.
»Auch wenn wir andere verurteilen oder bewerten, verurteilen und bewerten wir im Grunde uns selbst.«
Warum machen wir das überhaupt? Aus Angst?
Wir urteilen, um nach außen projizieren zu können, was wir innerlich nicht fühlen wollen. Wir urteilen, um unseren tiefsten Wunden aus dem Weg zu gehen.
Sogar uns selbst gegenüber sind wir manchmal gnadenlos.
Wir richten uns damit immer gegen uns selbst. Auch wenn wir andere verurteilen oder bewerten, verurteilen und bewerten wir im Grunde uns selbst. Ein Urteil, das wir über andere fällen, ist immer ein Urteil über eine eigene Schattenseite, von der wir uns entfremdet haben.
Gibt es auch etwas, das uns im Alltag dabei hilft, uns vor dem Urteilen zu bewahren?
Neugier auf andere ist ein guter Ausweg. Wenn du einem anderen ehrlich und neugierig Fragen stellst über sein Leben, hast du gar nicht mehr die Zeit dafür, ihn zu beurteilen und zu bewerten. Was noch dagegen hilft, ist Wertschätzung. Wenn du deine Aufmerksamkeit vom Urteilen darauf verlagerst, was es am anderen wertzuschätzen gibt, dann löst du das Urteilen in Liebe auf.
Wie sieht es mit Mitgefühl aus, ist das auch wichtig?
Natürlich. Mitgefühl hebt alle Grenzen auf und verweist das Urteilen und Bewerten auf die Plätze. Wenn du dich mit der Energie des Mitgefühls verbindest, wirst du dich automatisch mehr im Einklang mit allem fühlen, und das Urteilen und Bewerten schwindet von selbst.
Wenn wir uns immer mitfühlend und wertschätzend verhalten, kann das aber auch schnell fehlinterpretiert und ausgenutzt werden. Dann denken die Leute am Ende, man sei ein verletzliches Weichei.
Ist Verletzlichkeit denn eine schlimme Eigenschaft? Wir müssen in unseren Beziehungen mehr Verletzlichkeit zulassen, damit der Kontakt aufrichtig bleibt. Es kann maßlos erschreckend sein, wenn man verletzlich ist. Aber wer einen nahen Kontakt zu anderen Menschen haben will, muss der Verletzlichkeit den ihr gebührenden Platz einräumen.